ÜBER DAS EGO UND SEINE TRANSFORMATION

Das Wort „Ego“ stammt aus dem Lateinischen und beleuchtet das Ich eines Menschen. Darunter versteht man, welches Bild eine Person von sich hat, was sie über sich denkt, was sie von sich selbst glaubt und wie sie sich selbst versteht. Aus welcher Motivation heraus sie handelt, wie sie sich gibt und selbst empfindet. Was sie über sich selbst und andere sagt und wie sie in und zu der Welt steht. Dieses Selbstbild bestimmt im Wesentlichen, wie eine Person auftritt, wie sie sich innerlich fühlt und welchen Status und welches Selbstwertgefühl sie sich zuschreibt.

Ganz allgemein gesagt, wer und was diese Person als Individuum ist. Ego bezieht sich auf die Persönlichkeit eines Menschen und meint sowohl die oberflächlichen als auch die tief verinnerlichten Meinungen und Glaubenssätze über sich selbst, die mehr und weniger heilsam das eigene Leben ausrichten und formen. Diese Auffassungen und Denkweisen von sich selbst gestalten ein Selbstbildnis mit all den unterschiedlichen Fähigkeiten und Defiziten, aber auch all den Täuschungen, denen ein Mensch immer wieder unterliegt.

Jeder Mensch besitzt ein Ego und in der Entwicklung des Menschen ist es enorm wichtig, dass ein Kind ein gesundes, stabiles Ego aufbauen kann, das diesen Menschen als Erwachsenen durch all die Wechselfälle des Lebens hindurchtragen und stabilisieren kann. Doch in dieser notwendigen Entwicklung und Entfaltung des Egos eines jungen wie auch älteren Menschen kann es zu mannigfachen Störungen und Fehlentwicklungen kommen. Dementsprechend gibt es Menschen, die ein zu schwaches Ego besitzen. Sie sind von Befürchtungen und Ängsten bestimmt, sind schüchtern und haben wenig Zutrauen zu sich selbst und glauben eher den Aussagen anderer als sich selbst. Andere leiden unter ihrem Ego, weil sie verletzende und diffamierende Worte und destruktive Handlungen erlebt haben. Dritte wiederum strotzen nur so in ihrem Ego, sind narzisstisch, stolz und dominieren andere, schwächere Menschen. Die einen leiden unter Mangel an Zutrauen und fühlen sich immer wieder unsicher und schwankend, während die mit dem aufgeblähten Ego überheblich, selbstbezogen und herablassend ihrer Umwelt und anderen Menschen und Wesen gegenüber auftreten. An Respekt gegenüber anderen fehlt es oft ganz und gar.

Die Geschichte der Menschheit ist voll von der einen wie der anderen Sorte an Egos. Am eigenen Ich orientierte Menschen richten sich immer wieder an einer inneren Geisteshaltung aus, die das Individuum und seine Neigungen wie auch sein Missfallen in den Mittelpunkt stellt. Der egozentrierte Mensch bezieht sich auf sich selbst. Er kreist um sich selbst. Infolgedessen verfängt er sich in seinem eigensinnigen Streben, da er vor allem sich selbst sieht und nicht die Menschen und die Welt um sich herum. Denn zu einer von sich selbst abstrahierenden Sichtweise ist das Ego nicht in der Lage.

Was macht nun ein Ego aus? Wie zeigt sich das Ego? Woran ist es zu erkennen? – Das Ego eines Menschen präsentiert sich dadurch, dass es erstens etwas will, oder zweitens etwas wissen will, oder drittens auch etwas haben will . In der gegensätzlichen Verneinung dieser drei Arten des Wollens will es nichts von alledem. Das Wollen oder Nicht-wollen steht immer im Mittelpunkt, es bildet das Zentrum im Bestreben des Egos. Je mehr egozentrisches Wollen, desto mehr Ego. Je weniger Wollen, umso weniger Ego. Ego zeigt sich im Anhaften an dem, was es begehrt oder im Zurückweisen dessen, was stört oder sonst wie unangenehm ist.

Ego lebt also von Identifizierung, von Anhaften und Festhalten: an Meinungen und Sichtweisen über sich und andere, an Schubladendenken und geistigen Projektionen. Es hängt fest in Vorurteilen und im Verurteilen. Nicht das offene, unvoreingenommene Herangehen an Leben und seine Entwürfe, an die es umgebenden Geschöpfe prägt den egozentrisch orientierten Menschen, sondern das Festlegen von sich selbst und anderen auf enge Strukturen und das Gefangennehmen der Lebenswirklichkeiten in Denkweisen sowie Lebenshaltungen, die oftmals wenig Raum zum Atmen und Leben zulassen. Das Tragische an einer solch starren Egobildung ist, dass ein solcher Mensch denkt, er ist so, wie er nun mal ist und er sieht nicht, dass das eigene Ego nur ein Gedachtes ist. Diese gedachte Identifikation wird in der Kindheit erworben und aufgebaut. Alles, was jedoch gedacht und geistig vorgestellt ist – oft sehr unbewusst, kann jedoch durch bewusstes Erkennen und geistige Reflexion und Bearbeiten auch wieder losgelassen werden und in einer ganz anderen Weise gesehen sowie verstandesmäßig und begrifflich gefasst werden.

Die Lebenserfahrungen von achtsamen und wachen, innerlich reif gewordenen Menschen jedoch lehren uns, dass Handlungen und Verhaltensweisen, die dem Ego entspringen, meistens zu leidvollen Konsequenzen führen, da sie mit den Egos der anderen Personen kollidieren. Der eine will dies, die andere etwas ganz anderes. Das Ergebnis dieses Widerspruchs ist Konflikt und Auseinandersetzung, die in sehr vielen Fällen zu Leid und Kummer, zu unerfreulichen und unangenehmen Erlebnissen und Begegnungen führen. Wir brauchen nur die täglichen Nachrichten in den verschiedenen Medien klar und klug zu observieren, um diese immense Vielzahl von unerfreulichen Konflikten und leidvollen Auseinandersetzungen zu empfinden.

Einen Ausweg aus dieser Misere, wenn zwei unterschiedlich ausgerichtete Egos aufeinanderprallen, besteht im Kompromiss. Dieser versucht, Lösungen für diesen Gegensatz zweier individuell ausgerichteter Personen aufzuzeigen und in vielen Fällen kann der Kompromiss die Gegensätze in guter, für alle Seiten akzeptabler Weise überwinden. Zum Beispiel ist die Arbeit von politischen Gremien, Regierungen und Parlamenten davon bestimmt, dass Kompromisse und Abmachungen gefunden werden, die unterschiedliche Vorstellungen und Ideen zusammenführen und Gegensätze überwinden lassen. Auch in Ehen, Partnerschaften und Gruppen gilt es immer wieder, Strategien und Vereinbarungen zu finden, die Widersprüche aufzulösen versuchen.

Doch bis es zu einem echten Kompromiss zwischen unterschiedlichen Konzepten und Denkweisen kommt, vergeht oftmals viel Zeit und sehr viele geistige und andere Energien müssen aufgewendet werden, um einem solchen Ergebnis näher zu kommen. Auf diesen Wegen sind vielfältige, schmerzvolle und unbefriedigende, innere Geisteszustände zu überwinden. Steinartige, oftmals verhärtete Positionen und Verhaltensweisen stellen sich als peinvolle und bedrückende Hindernisse in den Weg. So gut die Suche nach Kompromissen auch sein mag, sie bedeutet leider nicht, dass unser Leben dabei frei von Leid und Frustration bleibt. – Doch wie mit dem Ego umgehen?

Zuallererst gilt es zu verstehen, dass das Denken im Sinne eines Egos eigentlich eine Illusion ist. Der Mensch, der sich ein wie auch immer ausgerichtetes Ego aufgebaut hat, lebt in einer falschen Wahrnehmung. Sein aufgebautes, vermeintliches Ich ist in Wirklichkeit etwas Vorgestelltes und Gedachtes, eine Einbildung. All die ihm in Kindheit, Jugendzeit und bisheriger Vergangenheit mitgeteilten Aussagen, wie er denn sei, sind Meinungen anderer über ihn, die ihn, sollte er sie für wahr erachten, in ein gedankliches und gefühlsmäßiges Gefängnis führen, das Ego genannt wird. Hinzu kommen die eigenen Glaubenssätze über sich selbst. All diese fremden und eigenen Aussagen und Meinungen stecken ein Spielfeld ab, indem ein Mensch sein Leben spielt: in einer Rolle, in einer Zuschreibung, einer Annahme, die andere auf ihn projizieren und letztendlich er auch auf sich selbst. So wird ein falsches, ein unechtes Selbst aufgebaut. Der Mensch glaubt zutiefst, dass er das sei. Und weil er das im Innersten so sehr glaubt, verhält er sich so. – Ein Circulus vitiosus!

Doch wie kommt jemand aus diesem Teufelskreis wieder heraus? Was löst das bewirkte Gefängnis von Projektion und Zuschreibung wieder auf? Ein Weg unter anderen besteht im Nachdenken und Reflektieren, ob das eigene, oftmals starr gewordene Bild über sich selbst wirklich die eigene Persönlichkeit beschreibt. Bin ich das wirklich, was ich und andere über mich denken oder bin ich nicht mehr? Bin ich nicht auch etwas oder jemand ganz anderes? Ist es nicht möglich, sich selbst anders wahrzunehmen und auch anders zu verhalten?

So könnte man versuchen, das konstruierte Selbstbildnis aufzubrechen, um neue Denkweise und Handlungsstrategien im eigenen Geist und vor seinem inneren Auge entstehen zu lassen, so dass nach und nach ein transparenteres oder flüssigeres Selbstbild entstehen kann. Eine weitere Möglichkeit, das illusorisch im eigenen Geist entstandene Ich und seine Ausgestaltungen loszulassen besteht im Praktizieren der Meditation. Eine der zentralen Anweisungen der buddhistischen Vipassana-Meditation, auch Einsichtsmeditation genannt, besteht darin, alle beim Meditieren aufgekommenen Gedanken, Bilder und Gefühle innerlich immer wieder mit drei Sätzen der Weisheit zu kommentieren: „das bin ich nicht, das gehört mir nicht, das ist nicht mein Selbst.“ All die Konditionierungen, die Menschen durch Elternhaus, Schule und sonstige Autoritäten erfahren haben, können auf diese Weise nach und nach von einem abfallen. Meditation, über viele Jahre praktiziert, führt den Menschen zu der wahren Natur seines Geistes. Diese geistige Natur ist nicht, wie das Denken in den Kategorien des Egos es nahelegt, begrenzt und eingeschränkt, sondern offen und grenzenlos weit, voller Klarheit und Freude und äußerst sensitiv, d.h. sie ist fähig zur universalen Liebe und Barmherzigkeit, auch Mitgefühl genannt.

Diese einem Menschen innewohnende „Ich-Kraft“, die sein Verhalten in vielfältiger Weise bestimmt, kann somit im Laufe des Lebens durch eine Transformation der eigenen Sichtweise von einer ganz anders gearteten Kraft abgelöst werden. Die bisherige Betonung auf ein „Ich“ wandelt sich in diesem lebendigen Prozess zu einem „Wir“. All das, was im Leben auf diesem Planeten nicht das eigene Ich verkörpert, wird durch einen solchen Transformationsprozess wirklich mit tieferem Verständnis gesehen und respektiert: der andere Mensch, die Familie oder die Gruppe, die Gemeinschaft und Gesellschaft, das andere Land als auch Erfordernisse der Umwelt und der Ökologie werden als nicht getrennt vom eigenen Dasein erlebt. Das Denken und Fühlen des Menschen wie auch seine innere wie äußere Lebenshaltung weitet sich, entriegelt seine Sicht- und Betrachtungsweisen, öffnet sich für vieles, was anders ist als das bisher Gedachte. Die Kraft zu einer solch wirksamen Veränderung des Selbstverständnisses wird durch weise Einsicht und tiefe, transzendierende Reflexion erkannt und ist erheblich umfassender und bedeutender als das Ego selbst. Der Mensch versteht sich als Teil eines größeren Ganzen.

Es geht also darum, das über die Jahre durch Identifikation innerlich aufgebaute Ego in seinen vielschichtigen Strukturen auch wieder loszulassen. All das freizugeben und ab- zugeben, was jeder Mensch in seinem Leben mehr oder weniger gelungen entwickelt hat und auch entwickeln musste. Es ist ein Prozess, eine Dynamik, die – um ein Bild zu verwenden – sich auch in der Dynamik des natürlichen Atems zeigt: da ist ein Kommen, ein Einatmen und anschließend ein Ausatmen und Loslassen. Einatmend kommt die Welt mit all ihren Angeboten, Reizen und auch Forderungen, die es gilt, immer wieder zu reflektieren, zu relativieren, und letztendlich auch wieder loszulassen. Ähnlich verhält es sich auch mit der Ich-Kraft in unserem Leben. Wir kommen in Kontakt mit dem Wollen oder Nicht-Wollen des Egos, es zeigt sich in vielförmiger Weise, und dann sollten wir und müssten wir – im besten Sinne – unser Wollen auch wieder gehen lassen.

Jeder Mensch macht solche Erfahrungen, in denen er sich behaupten will und seine Interessen durchsetzen möchte. Erfolge gelingen und schmerzhafte Niederlagen schlagen über uns zusammen. In dieser abwechselnden Wirksamkeit vollzieht sich das Leben von uns Menschen. Viele wollen sich behaupten, wollen sich durchsetzen, wollen einen Sieg davon tragen in den Kämpfen des Lebens. In diesem über viele Generationen eingewohnten Kampfmodus kann man sicherlich bestehen und auch leben. Nicht wenige verhalten sich in dieser Weise, denken so, richten sich in diesen Kategorien des Egos aus. Wollen immer wieder gewinnen, wollen die Bestimmer sein. Doch ist das klug? Macht das Sinn? Gibt es nicht etwas Besseres?

Können wir nicht ein Leben finden, in dem wir so wenig wie möglich Kummer und Herzweh haben, ein Leben, das frei von Verbitterung und Verzweiflung ist? Wie kann unser Leben, in dem doch so schnell die Jahrzehnte vergehen, in eine Richtung gelangen, die von Freude und Glück, von Wohlergehen und Erfahrungen bestimmt ist? Eigentlich geht es doch darum, einen anderen, heilsameren Weg im Leben zu finden und einzuschlagen. Denn oftmals vergessen die vom Ego angetriebenen Menschen „auszuatmen“, das heißt loszulassen, auf das Durchsetzen ihrer Interessen zu verzichten.

Ein erstaunliches Gedicht von Hermann Hesse mag uns einen ersten Eindruck geben:

Glück
Solang du nach dem Glücke jagst,
Bist du nicht reif zu Glücklichsein.
Und wäre alles Liebstes dein.

Solange du um Verlor´nes klagst
Und Ziele hast und rastlos bist,
Weißt du noch nicht, was Friede ist.

Erst wenn du jedem Wunsch entsagst,
Nicht Ziel mehr noch Begehren kennst,
Das Glück nicht mehr mit Namen nennst,

Dann reicht dir des Geschehens Flut
Nicht mehr ans Herz, und deine Seele ruht.

Dieses Gedicht lässt deutlich werden, dass eine wesentliche Zielsetzung unseres menschlichen Daseins auch sein kann, einen geistigen Bewusstwerdungs- und Transformationsprozess einzuleiten und daran lebenslang zu arbeiten. So wie Hesse das Leben versteht, jagt das Ego nach dem Glück, ist rastlos und unruhig, begehrt dieses und jenes, will dieses haben, während jenes abgelehnt wird. Mal ist der Mensch glücklich und zufrieden, weil er etwas erreicht hat oder etwas gelungen ist, zu anderen Zeiten trauert er, weil etwas verloren wurde oder ein Mensch gegangen ist. Man könnte auch sagen, das Ego freut sich, weil eine Sache bewältigt oder ein Begehren erfüllt wurde. Andererseits ist das Ego wiederum unglücklich und vergnatzt, weil es frustriert wurde und das Leben sich in einer Weise gestaltet hat, die nicht erwünscht ist oder die abgelehnt wird.

Dort, wo Begehren nach einer Sache oder Person, nach einer ganz bestimmten Ausformung einer Situation stattfindet oder in umgekehrten Weise Widerstand und Aversion in seinen verschiedenen Ausformungen wie Ärger, Wut, Zorn und Hass entfaltet wird, entwickeln sich immer leidvolle und unheilsame Geisteszustände, die entsprechende Erfahrungen bewirken. Generell gilt, dort, wo das Ego aktiv und am Ruder ist, wo viele lebendige Energien sich einem herrschenden Ich unterwerfen müssen, entsteht immer Leid. Entweder bei einem selbst oder bei all den anderen Menschen und Lebewesen, die davon betroffen sind. Großes Ego bewirkt großes Leid, kleines Ego bewirkt kleines Leid. Darüber gilt es tief nachzudenken und dies gilt es wirklich zu verstehen. Die politische Situation der neueren Zeit in den verschiedenen Ländern mit entsprechenden Akteuren gibt viele passende Beispiele hierzu.

Heißt das nun, dass wir überhaupt keine Wünsche haben dürfen, dass wir auf alles verzichten sollen oder alles einfach so akzeptieren sollen? Sicherlich nicht. Natürlich ist es legitim, einen Wunsch oder ein Bedürfnis zu haben und dieses auch zu artikulieren. Nichts spricht dagegen. Die Frage ist vielmehr, wie wir ein Bedürfnis und einen Wunsch versuchen, in die Tat um zu setzen? Setzen wir uns dabei über die Interessen der anderen hinweg und übergehen die Anliegen der anderen oder sind wir in der Lage, die Interessen anderer Menschen und Gruppen zu sehen und zu verstehen, sie anzunehmen und mit unseren eigenen Interessen und inneren Haltungen in Beziehung zu setzen? Nehmen wir die anderen ernst und deren Anliegen wichtig oder versuchen wir deren Wünsche schlau und clever zu umgehen und auszuklammern?

So wie aus einem Distelsamen kein Apfelbaum erwachsen kann oder wie hässliche, gemeine Worte keiner Freundschaft förderlich sind, so können aus Motivationshaltungen, die von egozentrischen und egoistischen Geistesverfassungen angetrieben sind, keine freudvollen und glücklichen Lebenshaltungen entstehen. Gilt es doch zu verstehen, dass alles, was in unserem Leben entsteht, aus vielfältigen Ursachen und Bedingungskomplexen entsprießt und heranwächst. Wollen wir ein glückliches Leben erfahren, reich an Freude und Wohlbefinden, müssen auch all die Bedingungen dafür gesetzt werden, die solches Ansinnen möglich machen.

Die Forderungen des überbordenden Egos verwehren solche Bestrebungen. Es versucht vielmehr, sich in irgendeiner Weise zu behaupten und durchzusetzen. Das kann sogar mit Gewalt geschehen. Die Kriege und Gewaltkonflikte in der Geschichte der Menschheit zeugen davon. Unendliches Leid und tief verletzende Traumata durchziehen die verschiedenen Abfolgen von Generationen von Menschen und all der anderen Lebewesen.

Eine Art und Weise, wie wir in sehr heilsamer, hilfreicher Weise durch das Leben gehen können, zeigt uns das Wasser. An einer bestimmten Stelle der Erde entspringt in einer Quelle Wasser. Es ist absolut offen, in welcher Weise es seinen Weg zum Meer findet. Das Wasser hat keinen Willen, in welche Richtung es nun fließen wird. Vielmehr die Beschaffenheit des Bodens, die Neigungen der Erde als Hang oder Felssturz oder auch als Ebene bewirken, wo und in welcher Weise sich das der Quelle entsprungene Gewässer sammelt und fließt. Nicht das Wasser bestimmt die Flussrichtung, sondern die Art des Grundes und des Bodens, auf dem es fließt. Trifft das fließende Wasser auf ein Hindernis, dann wartet und sammelt es sich, entweder vor dem Hindernis selbst, bis es darüber hinwegfließen kann oder es strömt um das Hindernis herum und ändert vielleicht auch seine Richtung, in die es treibt. Wasser hat kein Ego, weil es kein Wollen besitzt, aber man könnte sagen – um im Bilde zu bleiben – Wasser ist sehr achtsam und äußerst wach und intelligent, um jede Ritze und jedes Löchlein zu finden, durch welche es durch- und weiterfließen kann und sich seinem ihm unbewusst bleibenden Ziel, nämlich dem Meer, annähern kann.

In ähnlicher Weise dürfen wir Menschen Bestrebungen und heilsame Wünsche haben. Wir können Anliegen anderer, die an uns herangetragen werden, in adäquater Form auch zurückzuweisen. Wir können und dürfen Ja und Nein sagen. Was sollte hier dagegen sprechen? Wir haben auf jeden Fall das Recht dazu, gleichzeitig jedoch die Pflicht, dies in einer guten, respektvollen Weise zu artikulieren. Die entscheidende Frage an sich ist jedoch, wie gehen wir weiter vor, wenn wir auf Hindernisse im Leben stoßen, wenn sich andere Menschen und Interessensgruppen unseren Anliegen entgegenstellen?

Menschen, die nicht von ihrem Ego bestimmt und ein anderes, heilsameres Verständnis von Leben entwickelt haben, treten in einer anderes Weise als das Ego auf. Sie machen es wie das Wasser, das auf Hindernisse stößt. Diese Menschen verstehen, dass das Hindernis, was sich ihren Bestrebungen gerade entgegenstellt, Teil des Prozesses ist, in dem sie gerade involviert sind und dass diese Schwierigkeit nicht übergangen und hinweggefegt werden darf. Erst einmal gilt, dass die Hürde oder der Widerstand, der im Augenblick gerade da ist, z.B. was meinen Lebensweg gerade blockiert, dass dieses innerlich angenommen und als solches akzeptiert wird. So mag man im Supermarkt etwas kaufen wollen, aber das Produkt ist vergriffen. Der egozentrierte Käufer regt sich innerlich oder auch nach außen hin sichtbar darüber auf, schimpft oder zeigt sich in anderer Weise ungeduldig. Der verständige Mensch versteht und sucht eine Alternative zu dem nicht Vorhandenen und findet ein anderes Produkt, das vielleicht wertvoller ist oder sonst irgendwie besser ist. Selbst wenn dieses nicht vorliegt, kommt der verständige Mensch mit der gegebenen Situation klar, ohne negativ zu reagieren oder zu verzweifeln. Der Unverständige reagiert unangemessen, der Kluge sucht einen neuen Weg oder ein anderes Produkt. Geduld ist eine der Eigenschaften, die den Verständigen auszeichnen, dem Unklugen aber in gewisser Weise abgeht und mangelt.

Was macht nun die Transformation aus, die das Ego von sich selbst befreit? Was lässt das Ego – neben dem bisher Gesagten – schwächer werden? Wie können seine Helfershelfer von selbstbezogenen Gedanken, von narzisstischen, inneren Bildern und verstörenden Gefühlen überwunden werden? Wie können wir das Ego zu einer anderen Lebens- und Geisteshaltung hinbringen, die unser Leben glücklicher und gesünder werden lässt? Wo und wie können wir ansetzen? Was ist der Weg hierzu?
Wichtig ist zu verstehen, dass wir das Ich in seinem Begehren und Zurückweisen nicht zerstören dürfen. Manche versuchen, in dem sie die Wünsche und Erwartungen des Egos verdrängen oder verleugnen, das Ego und seine Befindlichkeiten loszuwerden. Mit rigider Disziplin und kalter, innerer Strenge wird versucht, das Ich zu unterwerfen. Doch die Lebenserfahrung vieler Menschen, die solche Wege gegangen sind, zeugen von der Sinnlosigkeit derartiger Ansätze. Mit Gewalt und Härte können egozentrische oder egoistische Einstellungen nicht überwunden und aufgelöst werden. Nicht das Unterdrücken solch innerer Triebkräfte führt zum Ziel, sondern tiefes Verstehen und kluges Umgehen mit ihnen wird uns einen anderen Weg zeigen. Es geht nicht um das Zerstören oder Unterjochen des Ichs, sondern um das Transzendieren des Ichs. Dazu braucht es eine Veränderung der Sichtweisen im eigenen Geist.

Wenn wir wirklich verstehen, dass Handlungen sowohl körperlicher als auch geistiger Art, die von einer egozentrischen Geisteshaltung motiviert und angeleitet sind, immer wieder zu mehr oder weniger schmerzvollen und unbefriedigenden Erfahrungen führen, dann bemühen wir uns in intensiver Weise, diese verborgenen Keime und Samen des Egos in uns aufzuspüren. Der meditierende, reflektierende, in sich selbst versunkene Geist, der wach und achtsam all seine geistigen Aktivitäten wie Gedanken, Eindrücke, Bilder, Sinnesreize und Gefühle als auch sonstige Empfindungen in sich wahrnimmt, der wirklich hinschaut und all diese Regungen des Geistes wieder loslassen kann, entwickelt ein Geistesbewusstsein, das den Weg zur inneren Freiheit vom Ego einschlägt. So sollte man sich nicht mit einer Sache oder Situation zu stark identifizieren, sondern versuchen, mehr oder weniger starre Ich-Strukturen loszulassen, um sie in diesem von innerer Klarheit achtsam begleiteten Prozess hinwegschmelzen lassen zu können.

Es geht nicht mehr um das rabiate oder subtile Durchsetzen eigener Interessen und Ziele, sondern um eine Lebensweise, um ein Sein an sich, das von einer ganz anderen Kraft bestimmt wird, die Liebe genannt wird. Leben, das nicht von Ego dominiert wird, bedeutet, eine Lebensart zu kreieren und umzusetzen, in der echte und tatsächliche Liebe stattfinden kann. Liebe, die sich selbst und andere wertschätzend sieht und respektiert. Liebe, die unterstützend und fördernd tätig ist. Liebe, die in Gedanken, Worten und Handlungen positiv und konstruktiv neue Wege aufzeigt, die heilsam und heilend sind.

Eine Gemeinschaft wie eine Familie oder eine Projektgruppe oder ähnliches kann nur positiv und gesund wachsen und gedeihen, wenn nicht der Gegensatz herrscht, sondern der Gemeinsinn. Ein Gemeinsinn, der von Liebe zu sich selbst, zu anderen Geschöpfen, zur Umwelt und zur Natur, zum Leben schlechthin bestimmt wird. Universale Liebe, die das Ego überwunden hat, ist eine innere Kraft, der keine andere gleichkommt. Sie strahlt, wie das erhellende und wärmende Licht der Sonne, in alle Richtungen und versucht in heilsamer und helfender Weise tätig zu sein. Der vom illusionären Ego bestimmte, unwissende Mensch muss sich jedoch immer wieder selbst behaupten und durchsetzen, sonst hat er einen Verlust oder eine Niederlage eingefahren. Die Liebe jedoch sieht das andere und die anderen, das törichte Ego sieht nur sich selbst. Auch die Liebe zu sich selbst ist in ihrem Wesen von einer anderen Qualität als das auf sich selbst bezogene Ego.

Der oder die Liebende denkt nicht in den Kategorien des Ego. „Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie erfreut sich nicht am Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem Stand. Die Liebe hört niemals auf.“ (Paulus in 1 Korinther 13, 4 – 8)

Warum kann sie das? Wie ist sie dazu fähig, in dieser Weise zu sein? Ganz einfach: Liebe ist frei von Ego! Dieses wird vom menschlichen, unwissenden, illusionären Geist erzeugt. Ego entsteht somit in Abhängigkeit durch einen verblendeten, unklaren, in Illusionen gefangenen Geist. Liebe hingegen lebt unzerstörbar im menschlichen Wesen. Liebe ist absolut anderer Natur als das um sich selbst kreisende Ich. Liebe transformiert das Ego, den auf sich selbst bezogenen Geist. Sie mag oftmals noch nicht oder nicht mehr sichtbar sein, zugedeckt von erlebten Traumata und falscher Denk- und Lebensweise. Doch die Liebe ist zutiefst ein lebendiger Ausdruck der Natur des Geistes. In der Liebe zeigt sich Gott. Nichts kann höher oder stärker oder vollkommener sein als das, was Menschen Gott nennen. Deshalb ist diese Liebe unüberwindbar.